Die Impfstoffknappheit der EU (II)

Streit um Covid-19-Impfstoffe führt zum ersten heftigen Post-Brexit-Konflikt zwischen der EU und Großbritannien.

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BERLIN/LONDON(german-foreign- Bericht) – Im Kampf um die knappen Covid-19-Impfstoffe beginnt die EU den ersten Post-Brexit-Konflikt mit Großbritannien. Ursache ist, dass die Lieferung von Impfstoffen mehrerer Hersteller an die EU sich verzögert. Die Union attackiert jetzt einen davon – den britisch-schwedischen Pharmakonzern AstraZeneca, der wohl im ersten Quartal 2021 nur 31 statt, wie erhofft, 80 Millionen Impfdosen an die Union liefern kann. Grund sind Verzögerungen in einem Werk in Belgien. AstraZeneca erklärt dazu, die EU habe das Vakzin so spät bestellt, dass es nicht gelungen sei, sämtliche Anlaufschwierigkeiten rechtzeitig zu beheben. Mit Blick auf das schleppende Vorgehen auch Deutschlands im Kampf gegen die Pandemie hat Kanzlerin Angela Merkel am Montag auf dem Weltwirtschaftsforum kritisiert: „Die Schnelligkeit unseres Handelns lässt sehr zu wünschen übrig.“ Um schneller an Impfstoffe zu gelangen, drohen Berlin und Brüssel jetzt mit einem Exportstopp für Vakzine. Dies träfe Lieferungen an Großbritannien. London warnt, Willküreingriffe in reguläre Impfstoffkäufe würden die Beziehungen langfristig stark schädigen.

Impfsoffmangel

Schleppende Zulassungen

Das im internationalen Vergleich schleppende Vorgehen der EU in zentralen Fragen, die die Covid-19-Impfungen betreffen, hatte bereits Anfang Dezember Aufsehen erregt. Als am 2. Dezember die zuständige britische Behörde eine Notfallzulassung für den Impfstoff von BioNTech/Pfizer erteilte, fragten viele, wieso die entsprechende EU-Stelle (European Medicines Agency, EMA) noch nicht so weit sei, obwohl mit der deutschen BioNTech sogar ein Unternehmen aus der EU das Vakzin entwickelt habe. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte damals erklärt, es gehe nicht darum, „irgendwie Erster zu sein“; Vorrang müsse vielmehr die „Sicherheit“ haben In Kommentaren hieß es immer wieder, „auf ein paar Tage mehr oder weniger“ komme es nicht an. Zudem wurde mit der Behauptung, die EMA benötige mehr Zeit, weil sie Risiken ausschließen wolle, suggeriert, die zuständige britische Behörde gehe leichtfertig vor. Die tatsächlichen Ursachen dafür, dass die EU-Zulassung des BioNTech/Pfizer-Impfstoffs verspätet am 21. Dezember erfolgte, deckte das Wall Street Journal auf. Demnach hatte die EMA mit Problemen bei der Datenformatierung sowie mit mangelhafter Kompatibilität der Software zu kämpfen und kam erst Ende November auf den Gedanken, sich mit den Pharmakonzernen über eine effizientere Gestaltung der Abläufe zu verständigen, während die britische Behörde den Impfstoffherstellern zufolge schnell und flexibel agierte. Dabei habe sie genauso detailliert gearbeitet „wie jede Behörde“, hieß es bei BioNTech.

Schleppende Impfungen

Ähnlich schleppend wie die Impfstoffgenehmigung verlaufen auch die Impfungen selbst. Das liegt nicht nur daran, dass die EU umfangreiche Bestellungen bei Unternehmen aufgegeben hat, deren Impfstoffe sich verzögern, darunter vor allem die deutsche CureVac, die auf eine Zulassung für ihr Vakzin im Sommer 2021 hofft, sowie die französische Sanofi, deren Vakzin laut aktuellem Stand frühestens Ende 2021 fertig entwickelt sein wird. Zwar trägt dies zu dem aktuellen Mangel an Impfstoffen in der EU bei; doch sind die Mitgliedstaaten ohnehin zumeist nicht in der Lage, die gelieferten Impfdosen vollständig zu verabreichen. So werden etwa in Deutschland laut Angaben des Robert-Koch-Instituts Ende dieser Woche drei bis vier Millionen Impfdosen zur Verfügung stehen. Tatsächlich verimpft wurden jedoch – Stand: Montag – nicht einmal zwei Millionen Dosen. Als Ursachen für die Verzögerung werden etwa „die Weitergabe der Präparate vom Bund an die Länder, die Verteilung an die Impfzentren und Teams sowie die Terminorganisation mit den Patienten“ genannt. Allerdings müssen sämtliche impfenden Staaten diese Schritte erledigen. Vielen gelingt das deutlich schneller; im Vereinigten Königreich etwa haben mittlerweile mehr als zehn Prozent der Bevölkerung mindestens eine Impfdosis erhalten, in Deutschland dagegen gerade einmal zwei Prozent. Laut Hochrechnung der britischen Firma Airfinity wird Großbritannien mit der Impfung von rund 75 Prozent der Bevölkerung am 14. Juli „Herdenimmunität“ erreichen können, die EU hingegen erst am 21. Oktober.

Regionale Lieferketten

Unter Druck geratend, attackieren Berlin und Brüssel nun London und den britisch-schwedischen Pharmakonzern AstraZeneca, der den an der Universität Oxford entwickelten Impfstoff produziert. AstraZeneca hat in der vergangenen Woche – ebenso wie BioNTech/Pfizer – mitgeteilt, es werde zu Verzögerungen bei den nächsten Lieferungen kommen. Während BioNTech/Pfizer erklären, bei ihnen liege dies an Umbauten zur Erweiterung der Produktion, gibt AstraZeneca an, Ursache seien Anlaufschwierigkeiten bei der Serumfabrikation in einem Werk in Belgien. AstraZeneca beliefert die unterschiedlichen Absatzregionen mit Hilfe lokaler Unternehmen; so stellt etwa das Serum Institute of India (SII) das Vakzin des britisch-schwedischen Konzerns für Indien her, während das Lieferkontingent für Brasilien von der Fundação Oswaldo Cruz (Fiocruz) in Rio de Janeiro produziert wird. Das Impfserum für die EU wird von zwei Unternehmen in Belgien und in den Niederlanden hergestellt. Anlaufschwierigkeiten wie bei dem Werk in Belgien habe es auch bei der Produktion in Großbritannien gegeben, berichtet Konzernchef Pascal Soriot; allerdings habe man dort mehr Zeit gehabt, sie auszuräumen, da man die ersten Vereinbarungen mit der britischen Regierung bereits im Mai getroffen habe. Die EU habe sich damit deutlich mehr Zeit gelassen – bis August. Darauf sei das aktuelle Stocken in der Impfstofffabrikation zurückzuführen.[6]

Gerüchte aus „Koalitionskreisen“

Der Streit eskaliert. Bei der EU hieß es zunächst, man könne die Verzögerung nicht nachvollziehen, zumal man eine umfangreiche Vorauszahlung geleistet habe. AstraZeneca-Chef Soriot erklärt, die EU habe von Anfang an gefordert, ungefähr zum selben Zeitpunkt wie Großbritannien beliefert zu werden; sein Konzern habe allerdings wegen des späten Vertragsabschlusses darauf bestanden, dies nicht definitiv zuzusagen, sondern sich nur zu „größten Anstrengungen“ zu verpflichten. So habe man es dann auch vertraglich vereinbart. Ob dies zutrifft, lässt sich nicht überprüfen, da die EU sowohl den Vertrag als auch die Verhandlungsprotokolle geheimhält. Auf die Frage, ob es eine Möglichkeit gebe, rechtliche Schritte gegen AstraZeneca einzuleiten, wich ein EU-Sprecher aus: Es sei „nicht an der Zeit, rechtliche Diskussionen zu führen“. Für Entsetzen hat nun insbesondere in Großbritannien gesorgt, dass Berliner „Koalitionskreise“ am Montag die Behauptung in die Welt setzten, das AstraZeneca-Vakzin habe bei Über-65-Jährigen lediglich eine Wirksamkeit von acht Prozent.[10] Die Bundesregierung hat sich inzwischen offiziell von der Behauptung distanziert, die offenbar frei erfunden, aber schwer rufschädigend ist – und die zudem das Potenzial besitzt, den britisch-schwedischen Konzern vor der Ende dieser Woche erwarteten Zulassung seines Impfstoffs in der EU empfindlich unter Druck zu setzen.

Mit Exportstopp gedroht

Mittlerweile weitet der Streit sich zu einem ersten ernsten Konflikt zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich aus. Treibende Kraft ist dabei die Bundesregierung. So hat am Montag die EU-Kommission auf Druck aus Berlin angekündigt, künftig alle Impfstoffhersteller in einem „Transparenzregister“ zu erfassen. Die Konzerne müssten regelmäßig melden, welche Vakzine sie in welcher Menge produziert und wohin sie wieviel geliefert hätten bzw. zu liefern gedächten. Das Register soll umgehend eingerichtet werden. Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) dringt zudem auf eine Genehmigungspflicht für Impfstoffexporte. Zu Wochenbeginn stand sogar ein Exportverbot für Covid-19-Impfstoffe im Raum; dies hätte vor allem Großbritannien getroffen, das aus der EU mit dem BioNTech/Pfizer-Impfstoff beliefert wird. Sollte die EU tatsächlich dazu übergehen, von London korrekt erworbene Vakzine zu konfiszieren, dann werde dies „die Wirtschaftsbeziehungen eine Generation lang vergiften“, warnte am Montag der einstige britische Gesundheitsminister Jeremy Hunt. Der Äußerung kommt Gewicht zu, da Hunt im Streit um den Brexit als Befürworter eines Verbleibs in der EU hervorgetreten ist.

Der Westen zuerst

Gestern hat die EU-Kommission erneut nachgelegt und verlangt nun, aus den AstraZeneca-Lieferketten in Großbritannien versorgt zu werden. Laut Konzernchef Soriot lassen die Verträge dies für den gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu; einer Überprüfung dieser Aussage steht erneut die Geheimhaltungspraxis der EU im Weg. Abgesehen davon liefe die EU-Forderung darauf hinaus, dass Großbritannien seine Impfkampagne verzögert, weil die EU von ihm Ersatz für ihre eigenen Versäumnisse verlangt. EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides war gestern bemüht, den eskalierenden Streit von der rechtlichen auf die politische Ebene zu heben und eine Preisgabe des Prinzips zu fordern, wer Verträge zuerst unterzeichnet habe, werde auch zuerst beliefert: Diesen Grundsatz könne man „in der Metzgerei“ gelten lassen, nicht jedoch bei Impfstoffen. Die Argumentation leidet nicht zuletzt daran, dass die EU ihrerseits keinem Land weltweit auch nur eine einzige ihrer inzwischen zahlreichen Millionen Impfdosen überlassen hat, obwohl ärmere Staaten bisher keine Chance hatten, Vakzine zu erwerben: Sie wurden von der reichen Welt weggekauft, nicht zuletzt von der EU – nach dem Motto „Der Westen zuerst“.

Mehr zum Thema:

http://Der Westen zuerst und Die Impfstoffknappheit der EU.

Quelle: german-foreign