Nützliche Kriegsszenarien

Debatte um russische Truppen an der Grenze zur Ukraine hilft, neue Schritte zur Aufrüstung Kiews zu legitimieren. Berliner Think-Tank fordert EU-Militärpräsenz im Schwarzen Meer.

BERLIN/MOSKAU/KIEW (german-foreign Bericht) – Berliner Regierungsberater dringen vor dem morgen beginnenden Treffen der NATO-Außenminister auf militärische Schritte zur Unterstützung der Ukraine und schlagen die Vorbereitung weiterer Sanktionen gegen Russland vor. Die EU könne etwa militärisch „im Schwarzen Meer Präsenz zeigen“, erklärt André Härtel von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zur Begründung heißt es, Moskau bereite einen Angriff auf die Ukraine vor. Auch Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß behauptet: „Ein begrenzter militärischer Angriff, zum Beispiel zur Besetzung des Donbass, ist eine Option Moskaus.“ Für die Behauptung gibt es nach wie vor keinen Beleg. So ist immer noch unklar, ob Russland tatsächlich bis zu 110.000 Soldaten unweit der Grenze zur Ukraine massiert hat; falls das zutreffen sollte, ist umstritten, was der Grund dafür wäre. Experten weisen darauf hin, dass Russland nach dem Schwenk der Ukraine zur NATO im Jahr 2014 begonnen hat, neue Einheiten im Westen des Landes zu stationieren. Die Defender Europe-Manöver lassen ebenfalls die Verstärkung russischer Defensivstellungen angeraten erscheinen.

Aus „Sicherheitskreisen“ lanciert

Was es mit dem angeblichen russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine auf sich hat, ist nach wie vor nicht abschließend geklärt. Klar ist, dass die Behauptung, Russland massiere dort bis zu 110.000 Soldaten, seit Ende Oktober von nicht näher bezeichneten US-„Sicherheitskreisen“ lanciert wird. Als Beleg wird unter anderem eine Satellitenaufnahme angeführt, die zahlreiche russische Militärfahrzeuge zeigt, etwa auch Kampfpanzer.  Sie soll aus Jelnja stammen; die Kleinstadt liegt in der Oblast Smolensk nahe der Grenze zu Belarus und ist von der Grenze zur Ukraine gut 250 Kilometer entfernt. Experten weisen auf die Tatsache hin, dass die russischen Streitkräfte noch nicht all ihre Einheiten, die seit dem Umsturz in der Ukraine und deren Hinwendung zur NATO im Jahr 2014 im Westen des Landes neu etabliert wurden, vollständig mit Personal und Gerät ausgestattet haben. In Jelnja etwa ist, wie Oberst a.D. Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) betont, seit 2015 die 144. Schützendivision stationiert, aber bis heute immer noch nicht komplettiert worden.  Die neu eingetroffenen Truppen könnten dazu dienen.

Defender Europe

Sollte es sich bei den etwa in Jelnja neu eingetroffenen Truppen tatsächlich um zusätzliche Soldaten handeln und nicht lediglich um die Auffüllung lange geplanter und bekannter Einheiten, dann wäre immer noch ungewiss, worauf ihre Stationierung im Detail zielt. In den vergangenen zwei Jahren haben die USA sowie zahlreiche Verbündete aus Europa mit den Defender Europe-Manövern den Aufmarsch in Richtung russische Grenze geprobt – zunächst im Nordosten (2020), dann im Südosten (2021) des Bündnisgebiets. Russland muss die Aufmarschdrohung in der einen oder anderen Form beantworten. Jelnja liegt recht genau in der Mitte zwischen den beiden potenziellen Aufmarschregionen; dort stationierte Truppen können je nach Bedarf binnen kürzester Frist in beide entsandt werden. Selbst US-Experten weisen zudem darauf hin, dass es sich bei der Stationierung zusätzlicher Truppen um eine Reaktion auf stärkere US-Militäraktivitäten im Schwarzen Meer handeln kann.

Kein Interesse an einem Angriff
Russische Außenpolitikexperten wiederum betonen, ein angeblich drohender russischer Angriff auf die Ukraine ergebe aus russischer Sicht wenig Sinn. So wären russische Truppen auf ukrainischem Territorium auch dann, wenn die westlichen Staaten nicht unmittelbar intervenieren sollten, wohl stetigen Angriffen ausgesetzt, schrieb in der vergangenen Woche Ivan Timofeev vom Russian International Affairs Council (RIAC).  Je nach Szenario würde es sich um Angriffe der ukrainischen Streitkräfte oder von Guerillakämpfern handeln; in beiden Fällen wäre fest davon auszugehen, dass sie vom Westen massiv aufgerüstet und unterstützt würden. Hinzu kommt laut Timofeev, dass Moskau im Fall eines Angriffs auf die Ukraine mit einer dramatischen Ausweitung der westlichen Sanktionen rechnen müsste; ob diese überstanden werden könnten, sei nicht klar. Nicht zuletzt setze die russische Regierung mit einem Überfall auf das Nachbarland ihren Ruf aufs Spiel und müsse eine umfassende diplomatische Isolation befürchten, urteilt Timofeev.
Moskaus „rote Linien“

Timofeev geht entsprechend davon aus, dass ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine keiner der beiden Seiten nutzt – dass aber die Drohung mit einem Krieg unter Umständen für alle Beteiligten Vorteile bringt. Moskau könnte damit demnach deutlich machen, dass es auf seinen „roten Linien“ beharrt und es nicht zulassen wird, dass sie überschritten werden. Zu diesen „roten Linien“ gehört laut Timofeev der Versuch der Ukraine, „eine militärische Lösung für das Donbass-Problem“ herbeizuführen. Befürchtungen, Kiew schmiede derlei Pläne, wurden verstärkt laut, nachdem die ukrainischen Streitkräfte am 26. Oktober erstmals eine aus der Türkei gelieferte Drohne des Modells Bayraktar TB2 in den Kämpfen im Donbass eingesetzt hatten. Der Einsatz läuft einer Vereinbarung vom Juli 2020 zuwider, die, um „den Waffenstillstand zu stärken“, „ein Verbot des Einsatzes von Flugapparaten jeglicher Art“ vorsieht. Ende Oktober bestätigte eine Sprecherin des Auswärtigen Amts, Drohnen dürften im Kampfgebiet im Osten der Ukraine lediglich von der OSZE genutzt werden. Kritiker weisen darauf hin, dass türkische Bayraktar-Drohnen zuletzt in mehreren Waffengängen entscheidende Bedeutung erlangt haben.

Die Aufrüstung der Ukraine

Vor allem aber nützt die Behauptung, Russland plane einen Überfall auf die Ukraine, laut Timofeev dem Westen: Sie ist geeignet, die Ausweitung der militärischen Unterstützung für die ukrainischen Streitkräfte und gegebenfalls auch die Nutzung ukrainischen Territoriums durch westliche Truppen zu legitimieren. Tatsächlich wird in der EU unter anderem über einen militärischen Ausbildungseinsatz in der Ukraine diskutiert; Großbritannien unterstützt die Aufrüstung der ukrainischen Marine; die Vereinigten Staaten ziehen die Ausweitung der Waffenlieferungen an die Streitkräfte des Landes in Betracht.  In Deutschland herrscht Uneinigkeit. Während Mitte November „Sicherheitskreise“ mit der Einschätzung zitiert wurden, der russische Präsident Wladimir Putin suche „im Bereich des Militärischen keinen großen strategischen Konflikt“ [12], behauptete am Wochenende der Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß: „Ein begrenzter militärischer Angriff, zum Beispiel zur Besetzung des Donbass, ist eine Option Moskaus.“ Ähnlich äußert SWP-Experte André Härtel: Er hält eine russische „Invasion“ in der Ukraine für „möglich“.

„EU-Marinepräsenz im Schwarzen Meer“

Härtel fordert, „um Moskau von derlei Schritten abzuhalten“, müsse sich der Westen „auf eine Eskalation einstellen“ und neue „Sanktionen gegenüber Moskau und Minsk vorbereiten“. Zudem gelte es militärische Schritte einzuleiten: So könne „die EU im Schwarzen Meer aktiv Präsenz zeigen“ sowie „existierende bilaterale Militärhilfe in einer effektiven Ausbildungs- und Beratermission … bündeln“. Weitere Schritte könnten beim Treffen der NATO-Außenminister beschlossen werden, das am morgigen Dienstag in der lettischen Hauptstadt Riga beginnt.

Quelle: german-foreign (Originaltext)