Borgstedt, Angela, Orte des Widerstehens, Stuttgart, 2022

RezensionBorgstedt

Vertane Chancen

Die von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegebene Veröffentlichung von Angela Borgstedt: Orte des Widerstehens, Stuttgart, 2022 ist angekündigt als „Neuvermessung des Widerstandes gegen das NS-Regime im deutschen Südwesten“. Mit dem Buch betrete die Autorin „historiographisches Neuland“ (Klappentext), aber wirklich neu ist das Vorhaben nicht, die Orte/Räume zu skizzieren, an/in denen Menschen sich widerständig verhalten haben. Antifaschistische Stadtrundgänge sind längst Tradition in der Erinnerungsarbeit vor Ort: Wo im öffentlichen Raum traten NS-GegnerInnen v.a. vor 1933 auf, wo haben die widerständigen Menschen gewohnt, wo haben sie sich konspirativ getroffen, welche kirchlichen Räume boten Schutz, in welcher Firma gab es Widerstandszellen, wo und wie versuchten Gefangene oder ZwangsarbeiterInnen, gemeinsam zu überleben, dem Arbeitszwang zu entfliehen bzw. sich zu befreien und wo waren die Stationen der Fluchtwege, aus Nazi-Deutschland zu entkommen ?

Angesichts der Vielzahl der auch gedruckt vorliegenden Stadtrundgänge zu Orten des Widerstandes in Gemeinden in Bad.-Württ. erschließt sich nicht, was jetzt eine „Neuvermessung des Widerstandes“ (Klappentext), eine „innovative Topografie“ (S. 7) sein soll. Dass die „Aktionsräume“ des Widerstandes (S. 214) den lokalen Gegebenheiten angepasst sind, ist weder ein „neuartiger methodischer Zugriff“ (S. 9) noch neue wissenschaftliche Erkenntnis. So ist z.B. schon längst verortet, dass widerständige Menschen sich entlang des Rheins oder anderen Flüssen an anderen Stellen getroffen haben als die in Orten ohne Eisenbahnanschluss oder solchen, die von Wald umgeben waren. Die Techniken des Transports von Anti-Nazi-Schriften im „Reich“ und ins „Reich“ sind – je nach geografischer Gegebenheit, hier „Aktionsraum“ genannt, weitgehend dokumentiert.

Nicht überall sind die widerständigen Menschen bekannt, sind ihre Taten bzw. absichtlichen Unterlassungen dokumentiert. Aus dem Raum Pforzheim sind in verschiedenen Kapiteln zu unterschiedlichen Schwerpunkten 15 Personen z.T. mehrfach genannt. Leider erfahren Interessierte trotz der Behauptung, das Buch zeige „bewegende Biographien“ (S. 10), nur wenig über deren Lebenswege bzw. Schicksale, obwohl für zwölf der Genannten in der Datenbank „Widerstand im Raum Pforzheim 1933 – 1945“ (https://www.pforzheim.de/stadt/stadtgeschichte/gedenken-friedenskultur/widerstand-im-raum-pforzheim-1933-1945.html) z.T. ausführliche Biografien mit Bildern vorliegen:

Der mehrfach genannte Pfarrer Otto Riehm aus Ispringen opponierte nicht nur mehrfach gegen das „Beflaggungsgebot“ (S. 32 und 97), seine Frau Gertrud – sie wird nicht genannt – und er waren auch eine der Rettungsstationen für das jüdische Ehepaar Ines und Max Krakauer, was im entsprechenden Kapitel fehlt (S. 197 ff.) – erstaunlich für eine Forschende zum Thema „Stille Helfer“ (Klappentext). Auch bei Arthur Ditschkowski (S. 137) und Wilhelm Niederberger (S. 62), beide Zeugen Jehovas, sind die ebenfalls beteiligten Ehefrauen Emma und Frieda nicht erwähnt sowie auch nicht ihre Verfolgungs-Schicksale.

Die Nachbarn der zwei widerständigen kommunistischen Frauen Karoline Schnell und Valentine Stickel, Albert Ebel und Fritz Burkhardt (S. 58), sammeln in ihrem Viertel Spenden für einen zur Flucht gezwungenen Genossen, mehr an „Tiefenbohrung“ (Klappentext) ist nicht. Allenfalls aus dem Studium der in Fußnote 33 auf S. 58 angeführten Quelle könnte ersichtlich werden, dass alle Genannten 1935 vor das Sondergericht Mannheim gezerrt wurden. Dort steht allerdings nicht, dass die Nazis Valentine Stickel ins Frauen-Konzentrationslager Gotteszell sperrten, dass Albert Ebel im Konzentrationslager Sachsenhausen angeblich an „Blutkreislaufschwäche“ starb und dass Fritz Burkhardt, in das Bewährungsbataillon 999 gepresst und 1944 als „kriegsbeschädigt“ entlassen, den Bombenangriff auf Pforzheim am 23.2.1945 nicht überlebte.

Der zur Flucht ins Ausland Gezwungene hat zwar einen Namen, was Adolf Baier (S. 58) jedoch nach 1935 gemacht hat, fehlt schlicht. Es geht ihm nicht anders als den als Anti-Nazi-Schriftenherstellern und -schmugglern genannten Josef Arzner (S. 181), Emil Baumann (S.56), Friedrich Birk (S. 83 und 181), Leo Dallinger (S. 62) und Ernst Votteler (S. 60): Alle haben ab 1936 in Spanien gegen den von den Nazis unterstützten Militärputschisten Franco und für den Erhalt der Republik gekämpft, aber kein Wort davon – doch, einmal, bei Friedrich Birk gibt eine Fußnote (sic !) einen Hinweis auf „Internationale Brigaden“ (S. 83). Die Lebenswege der sechs Spanienfreiwilligen – von 118 allein aus Baden – sind im Internet und/oder in der Dokumentation „Adelante Libertad“ zu finden.

Solche Auslassungen sind kein Ausweis für akribische Archiv-Recherchen und schon gar keine Würdigung der Genannten, wie es im Vorwort (S. 7) formuliert ist, sie werden den Menschen, um die es geht, nicht gerecht. Nur einer Fußnote (sic !) ist zu entnehmen, dass Wilhelm Köhler (S. 97 und 99) vor ein Sondergericht gezerrt wurde; unerwähnt ist: Er überlebte das Gefängnis in Rottenburg a. N. und das Konzentrationslager Dachau. Fritz Schnurmann (S. 131) gab in seiner Praxis eben nicht nur eine regimekritische Schrift weiter, sondern floh, aus der Haft entlassen, nach Portugal und wurde in Lissabon zum Fluchthelfer – mit diesen leider fehlenden Informationen könnte er vielleicht zum „Vorbild“ werden und „Mut machen“, heute Zivilcourage zu zeigen – so im Vorwort (S. 10). Dass er als „Jude“ Berufsverbot bekam, ist ausgeblendet, als ob jüdische Menschen sich nicht gegen die Nazis gewehrt hätten.

Das Buch „eröffnet Horizonte“, so laut Vorwort: Die marginale Erwähnung von Fritz Schnurrmann lässt die Möglichkeiten aus, wirklich neue „Aktionsräume“ hinter den von Baden-Württemberg aus sichtbaren Horizonten zu entdecken: mit Fritz Schnurmann in Portugal, mit den sechs schon genannten Spanienfreiwilligen eben jenseits der Pyrenäen und 1939 im Internierungslager Gurs, mit Josef Arzner und Ernst Votteler in der Résistance in Frankreich und mit Adolf Baier in Schweden bei Sabotageaktionen gegen Kriegstransporte der Nazi-Wehrmacht.

Kooperationsverweigerung und Kritik“ gegen das bzw. am „Euthanasie“-Mordprogramm der Nazis seien „rar“, genannt ist dann ein „wohl einmaliger Fall“ (S. 19). Eine Dokumentation auf der Homepage der Stadt Pforzheim berichtet von dem Protest des katholischen Geistlichen Kurt Habich im Kino während der Vorführung des NS-Propaganda-Films „Ich klage an“. Auch z.T. erfolgreiche Versuche von Anstaltsleitern, Personal und AnwohnerInnen in bzw. bei den Anstalten Herten, Illenau und Kork, Menschen vor dem mörderischen Zugriff der Nazis zu retten, sind dort nachzulesen.

Bedauerlich, dass Chancen vertan wurden, Menschen, die auf verschiedene Weise und in verschiedenen „Aktionsräumen“ versuchten, dem Nazi-Terror zu widerstehen und „dem Rad in die Speichen zu fallen“ (Dietrich Bonhoeffer), durch „bewegende Biographien“ (so postuliert im Vorwort) tatsächlich lebendig werden zu lassen – oder doch wenigstens Hinweise zu geben, wo die mutmachenden Menschen vorgestellt sind und meist auch ein Gesicht erhalten haben.

Brigitte und Gerhard Brändle

Karlsruhe 25.1.2022