EU verhängt neue Sanktionen gegen Belarus – Quod licet Iovi…

EU verhängt neue Sanktionen gegen Belarus. Ein vergleichbarer Übergriff auf die zivile Luftfahrt seitens mehrerer EU- bzw. NATO-Staaten blieb 2013 folgenlos.

BERLIN/MINSK (german-foreign-Bericht) – Die EU verhängt in Reaktion auf die erzwungene Zwischenlandung eines Ryanair-Fluges in Minsk sowie die Festnahme eines belarussischen Exiloppositionellen neue Sanktionen gegen Belarus. So sollen etwa belarussische Airlines den Luftraum der EU nicht mehr durchqueren dürfen; auch neue Wirtschaftssanktionen stehen bevor. Die Reaktionen stehen in krassem Gegensatz zu den Reaktionen auf einen Vorfall im Juli 2013. Damals hatten mehrere EU-Staaten das Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Evo Morales mit der plötzlichen Sperrung ihres Luftraums zu einer Zwischenlandung in Wien gezwungen, wo die Maschine unter Bruch internationaler Normen kontrolliert wurde. Grund war, dass die Vereinigten Staaten den Whistleblower Edward Snowden an Bord vermuteten und ihn nach der erzwungenen Zwischenlandung festnehmen wollten. Das Ansinnen scheiterte nur, weil Snowden in Russland geblieben war. Proteste Berlins und der EU blieben aus. Die aktuellen Reaktionen erklären sich auch daraus, dass das Minsker Vorgehen die gesamte vom Westen protegierte belarussische Exilopposition in Verunsicherung stürzt.

„Staatliche Luftpiraterie“

Bereits am Sonntag, unmittelbar nach der erzwungenen Zwischenlandung des Ryanair-Flugs in Minsk und der Festnahme des mitgereisten belarussischen Oppositionellen Roman Protasewitsch, hatten Politiker in Berlin und der EU sowie in den USA das belarussische Vorgehen aufs Schärfste verurteilt. Es sei „absolut inakzeptabel, den Ryanair-Flug von Athen nach Vilnius zu zwingen, in Minsk zu landen“, erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz wurde mit der Äußerung zitiert, die EU werde „Konsequenzen ziehen müssen gegen den weißrussischen Diktator Lukaschenko und sein Regime“. Außenminister Heiko Maas kündigte ebenfalls schon am Sonntag „deutliche Konsequenzen von Seiten der Europäischen Union“ an.  Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock stellte die erzwungene Landung „einer staatlichen Entführung eines Passagierflugzeugs“ gleich, während die litauischen Behörden Ermittlungen wegen Flugzeugentführung ankündigten und das griechische Außenministerium „staatliche Luftpiraterie“ anprangerte. US-Außenminister Antony Blinken kündigte eine enge Abstimmung mit den US-Verbündeten in Europa an und verlangte zudem eine „internationale Untersuchung“.

Zur Zwischenlandung gezwungen

Der Vorfall ist keineswegs präzedenzlos. Vergleichbares war in der Nacht vom 2. auf den 3. Juli 2013 mit dem Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Evo Morales geschehen, der sich auf dem Rückflug von einer Konferenz in Moskau befand. In der russischen Hauptstadt war kurz zuvor der Whistleblower Edward Snowden eingetroffen, dessen die Vereinigten Staaten um fast jeden Preis habhaft zu werden suchten. In Geheimdienstkreisen zirkulierten – unzutreffende – Gerüchte, Morales könne Snowden an Bord seiner Maschine genommen haben, um ihm in Bolivien Asyl zu gewähren. Nachdem das bolivianische Präsidentenflugzeug in Moskau abgehoben war, sperrten – offenkundig auf Druck aus Washington – die NATO-Mitglieder Frankreich, Italien, Spanien und Portugal in einer Blitzaktion ihren Luftraum für den Flug. Morales musste notgedrungen einen Zwischenhalt in Wien einlegen. Dort kam es zu einer Kontrolle des Flugzeugs, die schließlich den Nachweis erbrachte, dass Snowden nicht an Bord war. Erst danach durfte der bolivianische Präsident seine Heimreise fortsetzen. Hätte sich der US-Whistleblower in der Maschine befunden, wäre er nach menschlichem Ermessen ebenso festgenommen worden wie jetzt der belarussische Oppositionelle Roman Protasewitsch.

„Rechtlich einwandfrei“

Der damalige Vorfall belegt nicht nur die prinzipielle Bereitschaft der westlichen Staaten, ihrerseits fremde Flugzeuge zum Landen zu nötigen, um Oppositionelle festnehmen zu können. Erschwerend kam noch hinzu, dass es sich bei Morales‘ Maschine um ein Präsidentenflugzeug handelte, das laut internationalen Normen diplomatische Immunität genießt. Nach harten Auseinandersetzungen gelang es, die Kontrolle des Jets in Wien als „freiwillige Nachschau“ zu deklarieren, um einen noch größeren diplomatischen Skandal zu vermeiden.  Von einem Akt der „Piraterie“ war damals mit Blick auf die involvierten Staaten – sämtlich Mitglieder von NATO und/oder EU – im Westen nicht die Rede. Die Regierungen Frankreichs, Italiens, Spaniens und Portugals gaben wenig später zu Protokoll, sie „bedauerten“ den Vorfall; bei bolivianischen Stellen gingen lediglich folgenlose Bitten um Entschuldigung ein. In Kommentaren hieß es zurückhaltend, „die Jagd“ auf Snowden treibe „seltsame Blüten“ ; kritisiert wurde allenfalls, der Übergriff sei „taktlos, undiplomatisch, peinlich“ . Zitiert wurden Völkerrechtler mit der Äußerung, die plötzliche Sperrung ihres Luftraums für Morales‘ Flugzeug, die die Landung in Wien erzwang und die Kontrolle ermöglichte, sei „rechtlich … einwandfrei“; dieselbe Position vertrete, so hieß es, auch die EU-Kommission.[9] Sanktionen standen nie zur Debatte.

Die Hauptstadt der Exilopposition

Im Unterschied zu damals fallen die Reaktionen in Berlin nicht nur deshalb so scharf aus, weil diesmal nicht westliche Staaten, sondern Belarus die Zwischenlandung des Flugzeugs erzwungen hat, sondern auch, weil der Übergriff die vom Westen protegierte belarussische Exilopposition hart trifft. Der am Sonntag in Minsk festgenommene Roman Protasewitsch hat sich als Mitherausgeber des Telegram-Kanals Nexta, einem der zentrlaen Agitationsorgane der belarussischen Opposition, einen Namen gemacht. Protasewitsch befand sich auf der Rückreise aus Griechenland, wo er einen Aufenthalt von Oppositionsanführerin Swetlana Tichanowskaja begleitete; diese hatte dort auf Einladung des Athener Außenministeriums ein von Spitzenpolitikern besuchtes Wirtschaftsforum („Delphi Forum“) besucht. Vilnius, das Ziel des Ryanair-Fluges, ist nicht nur Tichanowskajas gegenwärtiger Aufenthaltsort, sondern auch „eine Art Hauptstadt der belarussischen Dissidenten“, heißt es bei deren Unterstützern; Litauen „orchestriere“ zudem die politischen Aktivitäten der belarussischen Exilopposition. Über Vilnius fördern auch bundesdeutsche Stellen die Proteste gegen den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko; von dort aus hält die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung enge Kontakte zu „Partnern in Belarus“.  Nach Protasewitschs Festnahme macht sich in Vilnius nun allerdings Verunsicherung breit.

Neue Sanktionen

Die EU und ihre Mitgliedstaaten erhöhen nun den Druck auf Belarus massiv. Am gestrigen Montag hatten zunächst mehrere Airlines aus EU-Ländern angekündigt, den belarussischen Luftraum künftig zu meiden, darunter die Lufthansa und die niederländische KLM. Die britische Regierung schloss sich an und gab bekannt, britische Fluggesellschaften sollten in Zukunft den belarussischen Luftraum ebenfalls nicht mehr durchqueren. Dazu forderten die EU-Staats- und Regierungschefs gestern Abend dann alle Fluggesellschaften aus der Union auf. Darüber hinaus sollen belarussische Airlines Flughäfen in der EU nicht mehr nutzen und auch den Luftraum der EU-Mitgliedstaaten nicht mehr durchqueren dürfen. Damit ist ihnen jeder direkte Flug in Richtung Westen verwehrt. Es kommen neue Sanktionen gegen Personen und Unternehmen hinzu; zudem legt die EU geplante Investitionen in Belarus auf Eis.  Genauere Angaben zu den neu geplanten „gezielten Wirtschaftssanktionen“ liegen noch nicht vor.

Quelle: german-foreign (Originaltext vom 24.5.2021)