Warum bewegen „die Guten“ die Ukraine nicht zur Aufgabe? Die Beantwortung dieser Frage führt in einen politischen und moralischen Abgrund.
Stellen wir uns Folgendes vor: Am 24. Februar dieses Jahres marschiert Russland in die Ukraine. Der ukrainische Präsident erteilt den Befehl, dass von seiner Armee nicht ein Schuss abgefeuert wird. Er teilt in einer Fernsehansprache den Ukrainern mit, dass er trotz des schweren Völkerrechtsbruchs Russlands eine friedliche Lösung für sein Land möchte und im Sinne des Friedens bereit ist, mit Putin zu verhandeln.
Was wäre dann passiert? Wie würde die Ukraine heute aussehen? Hätten die russischen Soldaten das Feuer aus ihren Gewehren und Panzern gegen die Ukrainer eröffnet? Hätten russischen Soldaten vor den Augen der Weltöffentlichkeit auf ein friedliches Volk geschossen, dass sich nicht einmal verteidigt, wenn eine Invasion im eigenen Land stattfindet? Die Realität sähe vermutlich wie folgt aus: Den Ukrainern wären die Sympathien der gesamten Welt sicher gewesen. Die russische Armee wäre zunächst perplex gewesen. Sie ist gekommen, um zu kämpfen, aber kein Ukrainer ist bereit, sich auf diesen Kampf einzulassen. Teile der ukrainischen Machtelite, die eine Kooperation mit Russland verweigert hätten, wäre es an den Kragen gegangen. Vermutlich hätte es trotz der Friedfertigkeit der Ukrainer, alleine schon aufgrund der Eigendynamik eines solchen Einmarsches, auch Übergriffe und Verbrechen gegeben. Von den massiven Auswirkungen eines Krieges, wie sie nun heute jeden Tag in den Nachtrichten zu hören sind, wäre die Ukraine verschont geblieben.
Die Auswirkungen für die Ukraine würden sich hauptsächlich auf der politischen Ebene bewegen. Die Ukraine würde zu einer Art Satellitenstaat Russlands.
Eine große Anzahl von Politikern, Medienvertretern und anderen Akteuren wird diese Ausführungen als „ungeheuerlich“ betrachten. Sie werden einwenden, dass es das Recht der Ukraine sei, sich zu verteidigen. Wenn hier einer Recht gebrochen habe und die Waffen niederlegen solle, dann sei das Russland.
An dieser Stelle gilt es innezuhalten.
So wie sich wohl die meisten Kreaturen auf diesem Planeten bei einem Angriff verteidigen, so wie jeder Mensch das Recht hat, sich zu verteidigen, wenn er angegriffen wird, so hat auch die Ukraine das Recht auf ihrer Seite. Aber: Es gibt einen Unterschied zwischen Recht haben und auf seinem Recht bestehen. Wer in seinem eigenen Haus überfallen wird, hat alles Recht der Welt sich zu verteidigen. Zielen dabei 10 bewaffnete Männer auf den Hausbesitzer und seine Familie und stellen ihn vor die Wahl: Haus verlassen oder Tod!, dann wäre eine Verteidigung, ein Bestehen auf sein Recht, auch im Hinblick auf die eigene Familie, nicht heldenhaft und bewundernswert, sondern dumm.
In einem Krieg muss berücksichtigt werden: Wer will Frieden? Und wer will Frieden nur zu bestimmten Bedingungen? Wer Frieden an Bedingungen knüpft, wird lange im Krieg sein.
Das Recht der Ukrainer sich zu verteidigen, sei ihnen unbenommen. Ein Anrecht, sie in ihrem Kampf und damit auch an der Verlängerung des Krieges, an Mord und an einem unsäglichen Leid auf beiden Seiten zu unterstützen, haben sie nicht. Wenn „die“ Ukrainer diesen Kampf führen wollen, dann ist es ihr Kampf – 5 Millionen Geflüchtete und ein Ausreiseverbot für Männer im „wehrfähigen“ Alter zwischen 18 und 60 lassen Zweifel aufkommen. Es kann und darf nicht der Kampf „des Westens“ und schon gar nicht der Kampf Deutschlands sein.
Wenn einige Ukrainer, vom Kampfgeist „beseelt“, für „Ehre“, „Volk“, „Freiheit“ und was auch immer bis zum letzten Blutstropfen kämpfen wollen, dann müssen sie den Preis für dieses Entscheidung zahlen. Sie können nicht erwarten, dass andere diesen Preis mitzahlen. Doch genau das ist bei einer weiteren Konfrontation zwischen der NATO und Russland in zunehmenden Maß der Fall. Hinzu kommt: Was ist eigentlich von Opfern zu halten, die die Welt mit in einen großen Krieg ziehen? Wobei, um präzise zu formulieren: Das ist gewiss nicht die Absicht „der“ Ukrainer. Es ist die politische Führungselite des Landes, die unverantwortlich handelt. Über 50.000 Treffer spuckt eine Google-News-Suche bei dem Begriff „dritter Weltkrieg“ derzeit aus. Das sollte zum Nachdenken anregen.
Wer im Hinblick auf eine militärische Hilfe der Ukraine mit einer „moralischen Verpflichtung“ argumentiert, handelt im besten Falle naiv und unwissend. Im schlimmsten Falle steckt eine perfide Absicht dahinter. Naiv und unwissend ist es, wenn nicht erkannt wird, was eine militärische Unterstützung, was Waffenlieferungen zur Verteidigung eigentlich konkret bedeuten. Nämlich: Mit den „guten“ Gewehren von „uns“ werden junge ukrainische Soldaten in die Lage versetzt, auf den Kopf von jungen russischen Soldaten zu schießen. Unsere Waffen zur Verteidigung, führen dazu, dass russische Soldaten, die auch Menschen sind, zerfetzt und bei lebendigem Leibe in ihren Panzern verbrennen. Ob diese Soldaten gekommen sind, um zu morden, oder ob sie sich vor Angst in die Hosen machen, weil sie auf diesen Krieg so wenig Lust haben, wie so manche ukrainischen Soldaten, wissen weder diejenigen, die die Waffen liefern, noch diejenigen, die sie gebrauchen. Das ist nur ein Beispiel.
Viele, die für Waffenlieferungen an die Ukraine sind, können oder wollen sich nicht vorstellen, was der moralisch so schön klingende, aber eben auch sehr abstrakte Begriff „Verteidigung“ in dieser Kriegssituation bedeutet. In der heimeligen Atmosphäre des Home Office lässt sich das Grauen, das von „Verteidigungswaffen“ ausgeht, gut übersehen. Die ultimative Waffenstärke mag am Ende über das entscheiden, was manche dann in völliger Verkennung und Beschönigung der Realität wagen, als „Sieg“ zu bezeichnen.
Aber bis es soweit ist, werden diese Waffen ein Blutbad anrichten. Wer diesen Weg wirklich beschreiten will, der möge selbst an die Front gehen; er möge die Waffe in die Hand nehmen, auf die jungen Männer in Uniform, die er als Feinde betrachten, anlegen, zielen, abdrücken. Und dann möge er echten Mut beweisen. Dann möge er nach Hause zu den Eltern und Familien der Ermordeten gehen, ihnen ins Gesicht blicken und sagen: „Ich habe Ihrem Sohn das Leben genommen, weil er meiner Ansicht nach nicht mehr verdient hat zu leben.“
Vorsicht vor einem falschen Gerechtigkeitssinn! Es geht hier nicht um ein Mütterchen, das auf der Straße angegriffen wird und dem es gilt, zur Hilfe zu eilen. Es geht um einen Krieg. Dieser Krieg hat komplexe politische Ursachen. Wer „helfen“ will, muss sowohl die Dynamik und die Auswirkungen eines Krieges als auch seine Ursachen verstehen. Ziel echter Hilfe, die die die Menschen in der Ukraine dringend benötigen, kann nur sein, dass das Morden, das gegenseitige sich Abknallen, Angriff und Verteidigung, Verteidigung und Angriff, so schnell es überhaupt nur geht, aufhören. Ziel kann nicht sein, einer Partei dabei zu helfen, möglichst viele Gegner zu töten. Echte Hilfe geht nur über Diplomatie, Vernunft und Einsicht.
Die Ketzerfrage, die diesen Krieg umgibt, lautet: Warum bewegen wir, „die Guten“, die Ukraine nicht zur Aufgabe? Wenn es uns wirklich um „Frieden“ geht, wenn wir wollen, dass das Grauen des Krieges sofort aufhört und all die unsäglichen Bilder von Leid, Zerstörung und noch mehr Leid und noch mehr Zerstörung, aufhören, warum handeln wir dann auf eine Weise, die diesen Krieg und dieses Grauen verlängert?
Die ehrliche Beantwortung dieser Frage lautet: Viele derjenigen, die in der Öffentlichkeit als „Helfer“ der Ukraine auftreten, handeln aus Motiven, die zu verachten sind. Sie wollen, sei es aus persönlichem Hass gegenüber Russland und Putin, oder aber aus politischen Gründen, Russland schwächen. Sie wollen Russland die Ukraine nicht überlassen, weil Russland bei einer Einverleibung der Ukraine geostrategisch gestärkt würde. Auf den Punkt gebracht: Sie reden vom Frieden, aber wollen doch den Krieg.
Die Tage hat das Magazin Fokus berichtet, britische und amerikanische Spezialeinheiten operierten in der Ukraine. Außerdem bildet laut Medienberichten die USA ukrainische Soldaten in Deutschland aus. Warum „helfen“ diese Länder der Ukraine auf diese Weise? Aus purer Barmherzigkeit? Die Antwort lautet: aus eigenen politischen Interessen.
Die Politik des Westens in diesem Krieg ist eine Politik der gespaltenen Zunge.
Viele Befürworter einer „robusten“ Unterstützung der Ukraine umkleiden mit edel klingenden Begriffen wie Demokratie, Freiheit, Menschenrechte ihre ganz und gar unedlen Motiven. „Unsere“ Freiheit wird in der Ukraine so wenig verteidigt wie am Hindukusch. Die „Hilfe“ der Militaristen gleicht einer Kindergärtnerin, die bei einer Rauferei dem unterlegenen Kind ein Messer in die Hand drückt, damit es sich „wehren“ kann. Ihre „Hilfe“ bringt Tod und Zerstörung! Wer das anzweifelt, dem sei ein einfacher Realitätsabgleich empfohlen. Nachrichten einschalten und sehen, wie ein durch Krieg zerstörtes Land aussieht. Russische Soldaten schießen mit ihren Panzern und Gewehren auf Häuser, ukrainische Soldaten feuern aus den Häusern auf die Russen. Ein Schuss bedingt den nächsten Schuss. Viele Schüssen führen zur totalen Zerstörung. Wer für Waffenlieferungen ist, muss diese Wahrheit aushalten.
Die mit Gegengewalt Frieden schaffen wollen, inszenieren sich, wie immer, in der Öffentlichkeit als „die Guten“. Vergessen wir nicht, was so manche Verfechter für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte in der Vergangenheit getan haben. Sie haben Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen und dabei etwa 200.000 Menschen fast auf einen Schlag getötet; sie haben in Vietnam das Entlaubungsmittel Agent Orange eingesetzt und dabei den Menschen, die dem Gift ausgesetzt waren, einen unfassbaren Schaden zugefügt – von den etwa 400.000 Tonnen der Brandbomben Napalm ganz zu schweigen; die Invasion Panamas, aus fadenscheinigen Gründen, bei der über Nacht mehrere hundert Bomben auch auf Wohngebiete eines souveränen Landes abgeworfen wurden, geht auf ihr Konto; die „gute“ Koalition der Willigen hat unter Lügen den Irak, ein souveränes Land, angegriffen und, je nach Quelle, etwa 500.000 Iraker getötet – dass dabei, laut Spiegel, 88.500 Tonnen Bomben abgeworfen wurden, übersehen sie elegant. Ein Verweis auf die etwa 50.000 Opfer der Geheimdienstoperation „Operation Condor“ sollte in dieser Auflistung, die nur beispielhaft sein kann, nicht fehlen. Sollten alle Völkerrechtsbrüche, Verbrechen und Ungeheuerlichkeiten, die sich die in der Tradition der „Guten“ stehenden in den vergangenen Dekaden geleistet haben, angeführt werden, würde der hier vorgegebene Platz nicht ausreichen.
Man kann es förmlich hören, wie „die Guten“ an dieser Stelle „whataboutism!“ rufen, das heißt den Bezug zu den Verbrechen des Westens als eine Ablenkung und eine Relativierung des Völkerrechtsbruchs Russland betrachten. Sie sind sehr geschickt darin, strategisch falsch zu verstehen. Die Verbrechen des Westens legitimieren nicht die Verbrechen Russlands. Wenn allerdings diejenigen im Westen, die in der Tradition der Kriegstreiber stehen, an deren Händen das Blut der Vergangenheit klebt, von einer „Unterstützung“ der Ukraine reden, dann ist Vorsicht geboten. Als moralische Instanz sind sie ohnehin disqualifiziert. Wer sich nach dem „moralischen Kompass“ dieser „Guten“ ausrichtet, muss aufpassen, dass er nicht irgendwann dem Teufel persönlich die Hand schüttelt.
Quelle: Gewerkschaftsforum Politik