Inmitten des Kriegs gegen die Ukraine lässt der Sound der Wehrhaftigkeit kaum Platz für Diskussionen. Klimafeindliche Rüstung geht kritiklos durch.
Müssen jetzt alle gleich denken, meinen, fühlen? Krieg hat einekollektivierende Wirkung, im Guten wie im Schlechten. Wunderbar das Ausmaß an Anteilnahme; so kann Solidarität aussehen, wenn sie nicht beeinträchtigt wird durch Spaltungen und rassistische Vorbehalte, wenn sie europäischen Menschen gilt, Unsrigen – vielleicht gestern noch nicht ganz unsrig, aber doch heute. Und ja, gewiss, auch ich habe demonstriert, gespendet, Empathie gezeigt.
Aber da ist eine neue Art von Pandemie, sie ist geistig-politischer Art, ein mentales Strammstehen, das sich über Nacht unter jenen verbreitet hat, die öffentlich Stimme haben. Das Große Sprechen, nennen wir es so. Es erklärt aus dem Heute des Kriegs rückwirkend die letzten 30 Jahre, als hätte es nie Alternativen zu der Situation gegeben, in der sich Europa heute befindet, und als wäre Putin schon in der Wiege ein Kriegsverbrecher gewesen.
Nein, ich relativiere seine Schuld nicht; dies ist ein durch nichts zu rechtfertigender Angriffskrieg. Aber ich finde nach wie vor, dass bei der Auflösung des Warschauer Pakts die Chance vertan wurde, gleichfalls die Nato aufzulösen. In Alternativen zu denken, nach vorne ebenso wie rückblickend, passt nicht in den neuen Sound der Wehrhaftigkeit.
Im Großen Sprechen mischen sich altbekannte rechte Schlagworte (zu viel Genderkram, Wokeness, Kirchentag) mit einer neuen unterwürfigen Kultur der Selbstbeschuldigung bei Demokraten, Grünen, Linken. Dazu das Windgebläse des medialen Überbietungswettbewerbs: Wo ist noch eine heilige Kuh aus Vorkriegszeiten, die wir schlachten können? Eine EU-Atommacht läge auf der Hand, lese ich.
Antimilitarismus auf der Anklagebank
Als Folge des Kriegs sitzen nun Zivilität und Antimilitarismus auf der Anklagebank – welch fatales Echo auf Putins Welt. Warum so wenig Kritik an einem Aufrüstungsvorhaben, das kurzfristig niemandem in der Ukraine hilft, aber parlamentarische Entscheidungsgewalt über Jahre außer Kraft setzt? Klimafeindliche Rüstung als Verfassungsziel? Hat jemand dafür grün gewählt? Wer gestern noch Bedenken gegen bewaffnete Drohnen hatte, lässt sich heute stummschalten, ohne Not.
Nicht Putins Invasion, sondern die Reaktion darauf bringt eine Zeitenwende, einen Paradigmenwechsel in die falsche Richtung – sofern es der neuen, diversen Friedensbewegung nicht gelingt, andere Prioritäten zu setzen, gegen das eisenhaltige Große Sprechen. Die Verehrung des Militärischen geht einher mit dem Herbeireden einer neuen bipolaren Weltordnung. Sie ist proamerikanisch, antirussisch, antichinesisch, und alle übrigen Erdbewohner sollen sich irgendwo hinten einreihen.
Der Überfall auf die Ukraine ist ein Einschnitt und eine Tragödie Aber er markiert weder „The Return of History“ noch den alles entscheidenden Epochenwechsel. Sondern er ist Teil des bitteren Kampfes um eine neue Weltordnung, der längst im Gange ist, auf vielen Schauplätzen und mit einer Riege von Akteuren. Europa ist nicht mehr die Bühne der Welt, wo sich alles entscheidet. Und Aufrüstung wird den strukturellen Abstieg des Westens im globalen Gefüge nicht aufhalten können – ein Abstieg, der ja die Basis des neuen globalen Ringens um Einflusssphären ist.
Quelle: Versönungsbund von Clemens.Ronnefeldt