Das Robert-Koch-Institut skizzierte auf Grundlage der Erfahrungen mit den Coronaviren SARS und MERS bereits 2012 ein Pandemie-Szenario. Es ist nun praktisch genau so eingetreten. Deutschland hätte genügend Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten.
Vielen Bundesbürgern fällt angesichts der Coronakrise vor allen Dingen auf, dass es Deutschland als einem der reichsten Länder weltweit plötzlich an so elementaren Dingen wie Atemschutzmasken und Desinfektionsmitteln mangelt.
Es scheint, als sie die derzeitige Pandemie aus dem Nichts über das Land hergefallen. Die Warnung vor dem momentanen Ausnahmezustand aber ist bereits acht Jahre alt.
Bericht im ZDF über Risikoanalyse rüttelt viele Bürger wach
Das ZDF-Polit-Magazin „Frontal21“ berichtete am 24. März 2020 von einer wissenschaftlichen Analyse, die inzwischen auch in den sozialen Netzwerken die Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Aus dem „Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“ geht hervor, dass die Bundesregierung seitdem von der aktuellen Corona-Pandemie wusste.
Das Robert-Koch-Institut (RKI) und weitere Behörden spielten das Szenario einer Pandemie durch. Es ging um eine theoretische Analyse, ausgehend von früheren Seuchengeschehen.
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Erfahrungen mit den Coronaviren SARS und MERS
In den Jahren 2002 und 2003 waren in 30 Ländern weltweit mehr als 8.000 Menschen an der Atemwegserkrankung SARS erkrankt. Knapp 800 Patienten starben.
2012 ging von der arabischen Halbinsel des Coronavirus MERS aus. Ende Februar 2020 waren der Weltgesundheitsorganisation WHO 2.519 Erkrankte und 866 Tote aufgrund einer Ansteckung mit dem MERS-Virus bekannt.
Am 3. Januar 2013 veröffentlichte der Bundestag das erwähnte Ergebnis zweier Risikoanalysen. Diese geben einen Überblick, welche Ereignisse mit welcher Wahrscheinlichkeit eintreten – und wie groß der zu erwartende Schaden ist.
„Außergewöhnliches Seuchengeschehen“ wurde vorhergesehen
Eine der Analysen bezieht sich auf eine Pandemie durch den Erreger „Modi-SARS“. Das Szenario beschreibe ein „außergewöhnliches Seuchengeschehen“, so der Bericht. In dessen Zuge käme es auch zu Versorgungsnot im medizinischen Bereich. „Die Industrie“ könne, so heißt es in dem Bericht von 2012, „die Nachfrage nicht mehr vollständig bedienen.“ Es entstünden „Engpässe“.
Thomas Rauch, Geschäftsführer des Verbands Hygiene und Oberflächenschutz, will erst im Gespräch mit dem „Frontal21“-Autoren Andreas Halbach von der Existenz des Papiers von 2012 erfahren haben. „Ich kannte es nicht. Davon bin ich überrollt worden.“ Den ersten Kontakt mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn habe es erst Mitte März 2020 gegeben.
Chinesen kauften Schutzausrüstung aus Deutschland zurück
Auch die Warnung Achim Theilers verhallte bei Spahn. Der Geschäftsführer der Franz Mensch Gmbh, eines des führenden Produzenten von Hygiene- und Schutzartikeln, schrieb am 5. Februar 2020 den Minister per E-Mail an. Darin wies er unter anderem darauf hin, dass 97 Prozent der Weltmarktproduktion von Hygiene- und Schutzartikeln aus China stamme. Von dort, wo das Coronavirus im Dezember 2019 ausbrach. Nun würden diese Artikel dort dringend benötigt und deshalb in Deutschland wieder aufgekauft.
Theiler forderte von der Bundesregierung, bezüglich der Ausstattung des medizinischen und des Pflegepersonals „vorzeitig“ zu planen. „Der Brand lief schon. Und man hat sich weiterhin mit dem Erklären des Brandes beschäftigt, anstatt darüber nachzudenken, wie man löscht.“
Das im Szenario von 2012 beschriebene „Modi-SARS“ ist hypothetisch, hat jedoch realistische Eigenschaften. Es handelt sich, wie beim nun aufgetretenen Sars-CoV-2, um ein Coronavirus.
Die Begründung für diese Annahme: „Die Wahl eines SARS-ähnlichen Virus erfolgte unter anderem vor dem Hintergrund, dass die natürliche Variante 2003 sehr unterschiedliche Gesundheitssysteme schnell an ihre Grenzen gebracht hat.“
Spahn und Wieler haben sich getäuscht
Genau das erlebt im Frühjahr 2020 auch Deutschland. Dies hängt auch mit Fehleinschätzungen aus berufenem Mund zusammen. So sagte Prof. Lothar H. Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, am 21. Januar 2020: „Insgesamt gehen wir davon aus, dass sich das Virus nicht sehr stark auf der Welt ausbreitet.“
Eine Woche später stand Wieler an der Seite des Ministers Spahn, als dieser im Rahmen einer Pressekonferenz noch immer beruhigte: „Die Gefahr für die Gesundheit der Menschen in Deutschland durch diese neue Atemwegserkrankung aus China bleibt nach unserer Einschätzung weiterhin gering.“
Dabei hatte drei Tage zuvor die Weltgesundheitsorganisation die Gefahr einer weltweiten Verbreitung des SARS-CoV-2 bereits als hoch eingestuft.
Im Bericht von 2012 heißt es, es sei „in der Praxis nicht vorhersehbar, welche neuen Infektionskrankheiten auftreten, wo sie vorkommen werden und wann dies geschehen wird.“
Trotzdem sagte Prof. Dr. Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, im Bericht bei „Frontal21“, er sei „erstaunt. Ich hätte es mir gar nicht vorstellen können, dass wir tatsächlich so unvorbereitet sind.“ (hau/dpa)
Quelle: ZDF-Nachrichten (Originaltext)