Griff nach der Bombe

Deutsche Politiker fordern Zugriff auf die französischen Nuklearstreitkräfte. Auch „nukleare Teilhabe“ soll bestehen bleiben

Sie lassen einfach nicht locker. Was geht bloß in  in diesen Köpfen der Machtbesessenenen um?

BERLIN (german-foreign Bericht) – Mit einigem Unmut reagiert Paris auf die erneute Forderung aus Berlin, die französischen Nuklearstreitkräfte einem gemeinsamen EU-Kommando zu unterstellen. Der entsprechende Vorstoß des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Johann Wadephul sei bereits „im Keim erstickt“, heißt es in Kommentaren; einflussreiche Militärs urteilen, eine Realisierung des deutschen Ansinnens sei auf absehbare Zeit „undenkbar“. Berliner Politiker und Regierungsberater dringen seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten verstärkt darauf, Zugriff auf die französische Force de frappe zu erhalten. Alternativ ist punktuell auch eine „deutsche Bombe“ im Gespräch. Hatte die Bundesrepublik in ihren frühen Jahren durchgängig Nuklearwaffen in nationaler Verfügungsgewalt gewünscht, so ist ein „europäischer“ Zugriff im Gespräch, seit sich die EU in den frühen 2000er Jahren in einer Phase des schnellen Ausbaus einer gemeinsamen Militärpolitik zu befinden schien. Parallel bereitet Berlin den Erwerb neuer Kampfjets für den etwaigen Abwurf von US-Atombomben („nukleare Teilhabe“) vor.

„Unter dem Kommando der EU“

Die erneute Diskussion um einen deutschen Zugriff auf die französischen Nuklearstreitkräfte hatte zu Wochenbeginn Johann Wadephul gestartet, der für die Außen- und Militärpolitik zuständige stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Wadephul hatte verlangt, die Bundesrepublik müsse „eine Zusammenarbeit mit Frankreich bei den Nuklearwaffen ins Auge fassen“. Es sei „Realität, dass wir eine atomare Abschreckung benötigen“; daher sei es „in deutschem Interesse, dass wir auf die nukleare Strategie Einfluss nehmen können, die uns schützt“. Deutschland müsse „bereit sein, sich mit eigenen Fähigkeiten und Mitteln an dieser nuklearen Abschreckung zu beteiligen“. Frankreich solle im Gegenzug seine Atomwaffen „unter ein gemeinsames Kommando der EU oder der Nato stellen“. Der französische Präsident Emmanuel Macron, der „uns mehrfach aufgefordert“ habe, „mehr Europa zu wagen“, könne „nun zeigen, dass auch er dazu bereit ist“, ließ sich Wadephul zitieren. Mit welchen „eigenen Mitteln“ sich die Bundesrepublik an der „nuklearen Abschreckung“ beteiligen soll, erläuterte der CDU-Politiker nicht.

Von der nationalen zur „europäischen“ Bombe

Das Streben der bundesdeutschen Eliten, zur Atommacht zu werden oder sich ersatzweise Zugriff auf die Nuklearstreitkräfte Frankreichs zu verschaffen, ist alt. Schon in den 1950er Jahren sprachen sich führende Bonner Politiker, darunter Bundeskanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, prinzipiell für eine „deutsche Bombe“ aus (german-foreign-policy.com berichtete ). Den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnete die Bundesregierung widerstrebend erst am 28. November 1969; für die Ratifizierung ließ Bonn sich ebenfalls viel Zeit – bis zum 2. Mai 1975. In den frühen 2000er Jahren, als sich die EU in einer Phase des schnellen Ausbaus einer gemeinsamen Militärpolitik zu befinden schien, nahmen Außenpolitiker und Regierungsberater in Berlin den deutschen Zugriff auf Atomwaffen erneut ins Visier – jetzt in Form einer Schaffung „vergemeinschafteter europäischer Nuklearstreitkräfte“. In einem deutschen Strategiepapier wurde im Jahr 2003 der Aufbau „Vereinter Europäischer Strategischer Streitkräfte“ erwogen, „die sich unter einem gemeinsamen europäischen Oberkommando des Atomwaffenpotenzials Frankreichs und Großbritanniens bedienen können“. „Die Supermacht Europa“, hieß es dazu, „bedient sich uneingeschränkt der Mittel internationaler Machtpolitik.“

Der „europäische Nuklearschild“

Mit Nachdruck fordern deutsche Außenpolitiker, Regierungsberater und Publizisten den deutschen Zugriff auf Atomwaffen seit der Wahl von US-Präsident Donald Trump. „Berlin wird es in Betracht ziehen müssen, einen europäischen Nuklearschild zu entwickeln, der auf französischen und britischen Fähigkeiten basiert“, erklärte der Direktor des Berliner Global Public Policy Institute, Thorsten Benner, Mitte November 2016. Zahlreiche ähnliche Äußerungen folgten. Stets heißt es zur Begründung, man benötige einen Nuklearschirm und könne sich auf denjenigen der USA nicht mehr verlassen. Dabei werden vor allem zwei Varianten diskutiert. Eine läuft darauf hinaus, eigene Atomwaffen zu bauen; dabei ist von einer „Atommacht Deutschland“ die Rede (german-foreign-policy.com berichtete ). Eine zweite sieht die Nutzung der französischen Force de frappe mit unterschiedlichen Graden der Einflussnahme vor. Die Optionen reichen von einer deutschen Kofinanzierung der französischen Nuklearstreitkräfte, die mit einem gewissen Grad an direktem Einfluss verbunden wäre, bis zur Unterstellung der Waffensysteme „unter ein gemeinsames Kommando der EU“, wie sie Wadephul jetzt verlangt.

Ein klares Nein

In Frankreich ruft das erneute deutsche Drängen in Sachen Nuklearstreitkräfte erheblichen Unmut hervor. Paris hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass es seine alleinige Kontrolle über seine Atomwaffen nicht preisgeben wird. Ende 2018 stellte Bruno Tertrais, stellvertretender Direktor der Fondation pour la recherche stratégique aus Paris, in der führenden Fachzeitschrift der deutschen Außenpolitik exemplarisch fest, Frankreichs Regierung werde „keine gemeinsamen europäischen Nuklearstreitkräfte unter Führung der EU“ zulassen; auch sei es „unrealistisch“ anzunehmen, „dass die europäischen Partner die französischen Streitkräfte mitfinanzieren“ könnten, um „im Gegenzug ein Mitspracherecht in der französischen Sicherheitspolitik“ zu erlangen. Zu dem penetranten Berliner Insistieren urteilen jetzt französische Kommentatoren, Wadephuls Vorstoß sei schon „im Keim erstickt“. Der einflussreiche General a.D. Vincent Desportes bekräftigt, die Entscheidung über den französischen Nuklearschild werde nicht „geteilt“; eine Verwirklichung des deutschen Ansinnens sei auf absehbare Zeit „undenkbar“.  Auch Corentin Brustlein, Direktor des Centre des études de sécurité am Institut français des relations internationales (ifri) in Paris, bestätigt, es gebe „auf politischer Ebene keinerlei Bereitschaft, die Entscheidungsgewalt über den Einsatz von Atomwaffen zu teilen“. Ausdrücklich wird auf die Rede zur französischen Nukleardoktrin verwiesen, die Präsident Emmanuel Macron am morgigen Freitag halten will.

wikipedia 

US-Atombomben

Mit Blick auf die Weigerung Frankreichs, sich den anmaßenden deutschen Forderungen zu öffnen, dringt Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer darauf, an der sogenannten nuklearen Teilhabe in Form von US-Atombomben, die auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel gelagert sind, festzuhalten. In Büchel befinden sich 20 Bomben des Typs B61. Sie sollen perspektivisch durch deren Nachfolgemodell B61-12 ersetzt werden. Über ihrem Ziel abgeworfen würden sie bei Bedarf von Tornados der deutschen Luftwaffe. Deutschland solle „weiterhin seinen Beitrag im Rahmen der nuklearen Teilhabe leisten“, bekräftigte Kramp-Karrenbauer am Montag.

Milliardensummen

Die Entscheidung zur „nuklearen Teilhabe“ hat kostspielige Folgen – denn die Tornados, die in Büchel stationiert sind, müssen in wenigen Jahren wegen ihres Alters ausgemustert werden. Noch für dieses Quartal hat Berlin die Entscheidung darüber angekündigt, welcher Kampfjet die für die „nukleare Teilhabe“ genutzten Tornados ablösen soll. Als Favorit galt zuletzt ein US-Flugzeug – die F/A-18, die vom US-Konzern Boeing hergestellt wird. Im Gespräch ist aktuell der Kauf von rund 40 F/A-18-Jets. Der Preis: mehrere Milliarden Euro.

Quelle: german-foreign (Originaltext v. 5.2.2020)

Die Kontiniutät ist nicht zu übersehen

Der Drang zum Atomkrieg bestimmt die Existenz der NATO von Anfang an

Am 4. April 1949 um 15 Uhr Ostküstenzeit unterbrachen Rundfunk- und Fernsehstationen der USA ihr Programm und schalteten ins State Department in Washington. Dort betraten elf Außenminister aus Europa und Kanada sowie US-Außenminister Dean Acheson einen kleinen Saal und nahmen Platz. Vor ihnen lag zur Unterzeichnung der Nordatlantikvertrag bereit, den Acheson maßgeblich konzipiert hatte – ganz im Sinn der am 12. März 1947 von US-Präsident Harry Truman verkündeten „Truman-Doktrin“. Sie besagte unter anderem: „Es muss die Politik der Vereinigten Staaten sein, freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen.“ Gemeint waren: Die USA proklamierten ihr Recht, jederzeit Krieg zur Eindämmung und zum Roll Back der Sowjetunion oder starker kommunistischer Parteien, wie etwa im griechischen Bürgerkrieg, zu führen. Die „geniale Erfindung“ (Kurt Gossweiler) des „Kriegs gegen den Terror“, die Carte blanche, die sich US-Präsident George W. Bush 2001 selbst gab, hatte Truman vorweggenommen. Der Unterschied: Er hatte es mit einer zwar durch den Weltkrieg ungeheuer geschwächten Sowjetunion zu tun, die aber dennoch militärisch stark war.

Am 4. April 2019 werden die Außenminister der heute 28 NATO-Mitgliedstaaten in Washington an die Zeremonie vor 70 Jahren erinnern. Sie repräsentieren „das stärkste Bündnis der Geschichte“, wie Generalsekretär Jens Stoltenberg im aktuellen „Spiegel“ verkündet. Seine These lässt sich in Zahlen ausdrücken: Von den mehr als 1,7 Billionen US-Dollar, die 2017 weltweit für Rüstung ausgegeben wurden, entfielen rund eine Billion auf die NATO. Die ungeheure Quantität ist Ausdruck einer Aggressionshysterie, die seit nunmehr 70 Jahren den Pakt zusammenhält und die Welt nicht zur Ruhe kommen lässt: Ein Staat, der sich Washington und dessen Verbündeten nicht unterwirft, wird mit Regime Change oder militärischer Zerstörung bedroht. Die Vertragsbestimmungen verpflichten dementsprechend zwar nicht zu militärischen Aktionen, sie lassen aber freie Hand, überall einzugreifen, wo die „politische Unabhängigkeit“ und „Sicherheit“ eines Mitgliedstaates gefährdet ist. Seit 1991 wird das in „heißen“ Kriegen exerziert, wobei der Krieg gegen Jugoslawien 1999 eine Zäsur darstellt. Er demonstrierte: Die NATO pfeift auf die UN-Charta und ersetzt Völkerrecht durch Faustrecht.

Das hat mit ihrer Herkunft zu tun. Sie entstand als Fortsetzung der Eroberungspolitik des deutschen Faschismus, obwohl sie angeblich auch dazu dienen sollte, Deutschland in Schach zu halten. Der erste NATO-Generalsekretär (1952 bis 1957), der britische Lord Hastings Ismay, definierte einmal, das Bündnis sei geschlossen worden, um in Europa „die Russen draußen zu halten, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten“. Aber Ismay selbst war es, der unmittelbar nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 22. Mai 1945 dem britischen Premier Winston Churchill einen von diesem in Auftrag gegebenen Plan für einen Krieg gegen die Sowjetunion unter Einbeziehung deutscher Truppen für den Sommer desselben Jahres übergeben hatte. Diese „Operation Unthinkable“ wurde erst 1998 der Öffentlichkeit bekannt, sie war die Blaupause für die NATO, wenn nicht ihre wirkliche Geburtsurkunde. Die Drohung, das US-Atombombenmonopol zur Vernichtung der Sowjetunion zu nutzen, begleitete noch den NATO-Gründungsakt in Washington. Erst am 29. August 1949 wurde die erste sowjetische Atombombe gezündet.

Das wichtigste Ziel der NATO war und ist bis heute, die damals verlorene Monopolsituation wiederherzustellen. Die NATO-Geschichte ist ein Kampf um die atomare Erstschlagskapazität, das heißt die von der Propaganda des Paktes als „Abschreckung“ verkaufte Fähigkeit, einen Atomkrieg zu eröffnen, ohne eine adäquate Reaktion zu riskieren. Das wurde zum ersten Mal durch die von der Sowjetunion in den 50er Jahren in Dienst gestellten Interkontinentalraketen in Frage gestellt und Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre durch das Erreichen einer strategischen Parität zwischen Sowjetunion und USA. Es führte zu den ersten Verhandlungen und Verträgen über Rüstungskontrolle und den Abkommen, die unter „Entspannungspolitik“ zusammengefasst wurden. Aber Ende der 1970er Jahre eröffnete die NATO mit dem „Doppelbeschluss“ eine neue Runde. Der INF-Vertrag von 1987 über das Verbot einer ganzen Kategorie landgestützter atomarer Mittelstreckenraketen stoppte den neuen Versuch und erwischte die NATO und insbesondere die USA auf dem falschen Fuß: Es war nicht vorgesehen, dass die Sowjetunion die „Nulllösung“ tatsächlich akzeptiert.

Die von der NATO seit langem vorbereitete Kündigung des INF-Vertrages verfolgt das alte Ziel: risikoloser Erstschlag. Das unter Wladimir Putin stabilisierte Russland, vor allem aber die VR China werden nun als Bedrohung des „größten Bündnisses“ wahrgenommen. Parallel zur Vorbereitung der INF-Kündigung wurde daher in den vergangenen Jahren eine als „Modernisierung“ getarnte Erneuerung der auch in der Bundesrepublik gelagerten US-Atomwaffen begonnen. Erneut wird die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa erwogen, ohne dass die Bundesregierung oder andere europäische Politiker Protest anmelden. Die europäischen NATO-Mitglieder haben vielmehr eine Aufrüstungslawine auch bei konventionellen Waffen losgetreten, während die USA auf zwei Basen in Rumänien und in Polen bereits Abwehrraketen gegen Russland stationiert haben, die in kürzester Frist auch atomar bestückt werden können.

Das Außenministertreffen zum NATO-Jubiläum schließt wieder einmal den Kreis: Der Pakt des atomaren Wahnwitzes und der Kriege zur Zerstörung Westafrikas, des Nahen und Mittleren Ostens und Afghanistans ist wieder da, wo er 1949 stand: Getrieben von imperialistischem Größenwahn, unter gefährlicher Verkennung der militärischen Kapazitäten Russlands und Chinas, spielt das Bündnis mit den USA vorneweg mit Drohung, Erpressung und Krieg. Und Deutschland macht mit.

Begleitet wird dies von einer ablenkenden Propagandakampagne. So schreibt der „Spiegel“: „70 Jahre nach ihrer Gründung steckt die Nato in einer existenziellen Krise. Der Streit um die Verteidigungsausgaben droht das Militärbündnis zu zerreißen.“ Stoltenberg im selben Heft: „Seit Donald Trump Präsident ist, sind die Militärausgaben der NATO für Europa um 40 Prozent gestiegen.“ Aber der Unfug von „existenzieller Krise“ füllt Tag für Tag die Medien. Solange das so ist, können die Strategen des atomaren Irrsinns ruhiger ihren Geschäften nachgehen.

Sie werden sich kaum ansehen, was geschah, als die NATO damit begann, ihre Atomraketen in den 1980er Jahren in Europa zu stationieren: Es mobilisierte Millionen Menschen. Das könnte sich wiederholen.