Die Judikative in Chile
In den letzten Tagen hat die Judikative in Gestalt oberster Richter eine grundlegende Rolle übernommen im Zusammenhang mit der Anklage von missbräuchlichem Polizeiverhalten, das sich inmitten der Proteste zeigte. Zwei von ihnen reichten eine Beschwerde gegen ein vermutetes Folterzentrum innerhalb der Metrostation Baquedano ein, eine Haltung, die während der Diktatur von Augusto Pinochet nie vorkam, wie Richter Daniel Urrutia bestätigte: „Die Judikative nahm ihre Funktion während der zivil-militärischen Diktatur nicht wahr und dies ermöglichte schwere Menschenrechtsverletzungen. Der Oberste Gerichtshof erkannte diese Situation an und dies markierte ein Vorher und ein Nachher. In der Tat sorgen wir uns darüber, dass die Judikative angesichts der schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, die auftreten, nicht wieder untätig bleibt, weil in diesem Moment die Menschenrechte eines großen Teils der Bevölkerung verletzt werden“, sagte er und versicherte, dass es „keinen Missbrauch ohne Sanktionen geben wird“.
Wirtschaftssystem des radikalen Neoliberalismus im Visier
Die Faktoren, die politische Unruhen bestimmen, sind vielfältig und von unterschiedlicher Größe. Sie verweisen auf das Wirtschaftssystem des radikalen Neoliberalismus. Zwei unkluge Entscheidungen der Regierungen der Concertación (vor der Zeit von Piñera, gleich nach der Militärdiktadur) sind bemerkenswert:
Der Ausnahmezustand und das Handeln der Armee
Der Verfassungsanwalt Jaime Bassa, der an der
Menschenrechtskommission des Senats teilnahm, stellt den Ausnahmezustand und das Vorgehen der Armee dar:
In der Tat sehen wir, dass die militärische Autorität so tut, als befänden wir uns in einem Belagerungszustand ohne gültige Normen und ohne jegliche Kontrolle. Der Präsident hat die ihm durch die Verfassung übertragenen Befugnisse an niemanden übertragen. Alles, was wir sehen, ist de facto. Das Schlimmste von allem, ohne politische Verantwortung. Sie liegt beim Präsidenten und verschwindet auch nicht, wenn er Aufgaben delegiert. Die Verfassung ist klar. Während des Ausnahmezustands ist weder der Präsident der Republik noch ein militärischer Regionalführer befugt, Personen festnehmenzu lassen, die sich nicht an die Ausgangssperre halten.
Denn „das verfassungsmäßige Organgesetz typifiziert oder bestraft nicht als Verbrechen, die Ausgangssperre nicht einzuhalten. Die Nichteinhaltung der Ausgangssperre ist nach dem Strafgesetzbuch kein Verbrechen, so dass Personen nicht verhaftet werden können. Das ist illegal. Die Warnungen und Klarstellungen dazu des Verfassungsrechtlers wurden nie berücksichtigt.
„Die Anschuldigungen „reichen von Vergewaltigungsandrohungen, wobei weibliche Gefangene mit der Waffe bedroht wurden, die sich vor den anderen Polizisten auf der Polizeistation und zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung im Haftraum ausziehen mussten, bis hin zu einer Reihe von Folterungen und Demütigungen an Frauen.“ So die Rechtsanwältin zur Verteidigung von Frauen Consuelo Gutiérrez.
Das Wirtschaftssystem als Bestandteil der gesamten Krise
Es gibt also eine strafrechtliche Verantwortung der Person, die die Schusswaffe braucht, eine zivilrechtliche Verantwortung des Finanzministeriums, um die Schäden zu ersetzen, und es gibt auch eine politische Verantwortung des Präsidenten, des Innenministers, von dem die Polizeikräfte abhängig sind.
Um ein neues Chile zu schaffen, muss der Schwerpunkt auf grundlegende Fragen gelegt werden. Die erste ist die Verfassungsänderung. Wohnen, Gesundheit, Bildung, Arbeit müssen in einer neuen Verfassung als soziale Rechte anerkannt werden. Andernfalls werden sie weiterhin als Ware behandelt. Die aktuelle Verfassung der Diktatur erlaubt keine staatliche Intervention in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Der gesellschaftliche Aufruhr verlangt, dass den Menschen bessere Lebensbedingungen garantiert werden. Der Staat ist aufgerufen, für dieses größere Wohlergehen zu sorgen, denn die Unternehmer denken nur unter Ausnutzung der neoliberalen Marktwirtschaftspolitik an ihre eigenen besonderen Interessen und Profit. Es ist der Neoliberalismus, der Ungleichheit erzeugt und Gesundheit, Wohlfahrt, Bildung usw. als Ware behandelt. Das Wirtschaftssystem ist Bestandteil der gesamten Krise. Nach einem Paradigma des radikalen Neoliberalismus muss der Staat öffentliche Unternehmen privatisieren und um für Wohlstand zu sorgen die Rentenkassen und die Dienstleisungen für Gesundheit und Bildung privatisieren. Die Regulierungsfunktion des Staates besteht nicht mehr. Die Behörden verzichten auf ihren politischen Willen, Investitionen und den Betrieb von privaten Unternehmen, die öffentliche Dienstleistungen erbringen, zu kontrollieren. Die Ungerechtigkeit gipfelt in der Konzentration von Wirtschaft und Wohlstand in einer Handvoll von Oligarchen, die für steigende gesellschaftliche Einkommens- und Vermögensungleichheit sorgen und sich unredlicherweise politische Macht hinter dem multimillionären Präsidenten angeeignet haben. Es ist ein einzigartiger Fall unter den Demokratien Lateinamerikas, dass sich eine gigantischen wirtschaftliche und darüber hinaus politischen Macht unter wenigen Personen in einem Präsidialregime ansammeln konnte, ein System, das besonders dem Präsidenten beträchtliche Autorität verleiht. Piñera hat ein Vermögen von 2.800 Millionen Dollar, was 0,94% des BIP entspricht („Amerikas Millionärspräsident“ in chilenischer Wochenzeitung „Cambio 21“, 30.10. bis 5.11.2019).
Auch Unternehmenslobbyisten befördern die wachsendeUngleichheit. Sie verfügen über entsprechende Institiute oder Think-Tanks, die von Oligarchen, den Milliardären, finanziert werden und die aktiv daran arbeiten, die öffentliche Meinung über die ihnen gehörenden Medien zu beeinflussen.
Problem: Verfassung von 1980, die von einer Diktatur gemäß Minderheiteninteressen auferlegt wurde
Chile hat ein Verfassungsproblem, weil die von der Diktatur verordnete Verfassung von 1980 die Werte und Interessen einer Minderheit widerspiegelt, die ihre „Wähler“ unterstützt hat. Darüber hinaus gewährt sie dieser Minderheit ein Vetorecht, das ihre Kontinuität trotz der 40 Verfassungsreformen ermöglicht.
Wirtschaftssystem des radikalen Neoliberalismus im Visier
Die Faktoren, die politische Unruhen bestimmen, sind vielfältig und von unterschiedlicher Größe. Sie verweisen auf das Wirtschaftssystem des radikalen Neoliberalismus. Zwei unkluge Entscheidungen der Regierungen der Concertación (vor der Zeit von Piñera, gleich nach der Militärdiktadur) sind bemerkenswert:
1. Die Strategie der demokratischen Legitimation für Wirtschaftswachstum und sich deshalb für die Kontinuität des in der Diktatur eingeführten neoliberalen Wirtschaftssystems zu entscheiden und nicht für seine Reform. Es war eine technokratische Logik, d.h. eine rationale und sachkundige Sicht auf Politik und Wirtschaft entsprechend der akademisch vorherrschenden Sicht der Volkswirtschaftler um den US-Nationalökonom Milton Friedman (Chicago boys). Es wurde angenommen, dass diese Strategie eine Politik erzeugen würde, um eine vollständige Demokratie zu erreichen. Die Zeitgeschichte zeigt, dass die dann sich weiter entwickelnde katastrophale Ungleichheit bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen zu politischer Instabilität führt, wie sie jetzt kaum schlimmer sein kann. Es muss zu einer Steuerreform kommen, die die immense Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen stark vermindert, um den sozialen Frieden wieder herzustellen und nachhaltig zu sichern. Dazu wird auch eine Vermögenssteuer festzulegen sein oder eine Art Lastenausgleich.
2. Das Programm der Regierung von Patricio Aylwin „Wachstum mit Mäßigung“ beinhaltete die Idee aufeinanderfolgender Schritte. Erstens war es notwendig, wirtschaftlich zu wachsen und erst dann zur zweiten Stufe überzugehen, die darin bestand, Ungleichheiten abzubauen. Die Regierungen der Concertación sind nicht in die zweite Stufe vorgedrungen. Die Bekämpfung von Ungleichheiten wurde verschoben. Edgardo Böninger, einflussreicher christdemokratischer Minister und Generalsekretär der Präsidentschaft von Patricio Aylwin betonte bis zum Ende seines Lebens das Wirtschaftswachstum und konditionierte die Politik gegen die Ungleichheiten daran, das Wachstum nicht in Gefahr zu bringen, da er hier einen Widerspruch und keinen Zusammenhang der Politikkonzepte sah.
Die Zeitung „La Tercera“ als Mittel zur Verbreitung grober Unwahrheiten verwendet.
Die jetzige Regierung von Sebastián Piñera hat versucht, die Angst zu nutzen, um den sozialen Druck zu verringern, und zwar indem sie versuchte, die Menschen davon zu überzeugen, Millionen von Chilenen würden aus dem Ausland aufgestachelt und mobilisiert. Darüberhinaus meinte Präsident Piñera, es existiere eine sehr gut organisierte Minderheit, die die demokratische Gesellschaft infiltriere und zerstören wolle. Mittels der chilenischen Tageszeitung „La Tercera“ wurde diese grobe Falschheit verbreitet. „La Tercera hat“ sich aber später dafür entschuldigt, dass sie die Meldung, die sie in dieser Angelegenheit von der Regierung selbst bekam, nicht ordentlich auf glaubwürdige Richtigkeit überprüft habe. Eine weitere gängige Praxis der Pinochet-Diktatur, die diese Regierung leider wiederholt.
Unangemessene Intervention von Piñera, die dem Völkerrecht und den traditionellen Praktiken der chilenischen Diplomatie widerspricht
Juan Guaidó, der Venezolaner, der sich selbst als „Präsident“ autonominierte, gab gegenüber der Tageszeitung „El Clarín“ von Buenos Aires Erklärungen ab und warf dabei dem venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro vor, hinter den Protesten in Chile und Ecuador zu stehen, und dass er verschiedene Gruppen „finanziert“, um die Demonstrationen in der Region zu „infiltrieren“. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, sich an das unverantwortliche und unangemessene Handeln von Präsident Piñera zu erinnern, als er vor einigen Monaten nach Kolumbien an die venezolanische Grenze reiste, um auf einen Staatsstreich in Venzuela zu warten, der kläglich scheiterte. Es war eine unangemessene Intervention, die gegen das Völkerrecht und die traditionellen Praktiken der chilenischen Diplomatie verstößt. Die sicherste und eindeutige Position innerhalb der chilenischen Opposition war die der Kommunistischen Partei (PC), die immer eine Position des Rechts aufrechterhält und verteidigt: „Die Regierung ist ein Staatsstreichführer, unverantwortlicherweise ermutigt sie zum Staatsstreich, sie misst nicht die Folgen. Was eine Regierung anstreben sollte, ist eine friedliche Lösung“, sagte PC-Chef Guillermo Teillier.
Unverschämte und unverhohlene Erklärungen zeigen deutlich, dass sich die USA in die Störungen und Straftaten in Chile einmischen.
In Anbetracht der Tatsache, dass der venezolanische Emporkömmling Juan Guaidó nicht von sich aus handelt, sondern als Marionette der US-Regierung, zeigt seine freche und seltsame Aussage deutlich, dass sich die USA in den Aufruhr und die kriminellen Handlungen, die in Chile begangen wurden, einmischen. Es waren Meldungen durchgesickert, die das Militär mit den Zerstörungen der Metro und anderer Vandalen belasteten. Präsident Donald Trump rief Sebastián Piñera an und verurteilte die „fremde Einmischung“ in die Proteste in Chile (CNN-Chile 13.11. um 17.00 Uhr). Seltsamerweise enthüllt der amerikanische Präsident sein „Interesse“ an Chile, indem er Piñera anrief.
Unheilbringende Verbindung neokonservativer Gruppen der Vereinigten Staaten mit der chilenischen Ultra-Rechten.
Die Geschichte Chiles kennt die verhängnisvolle Verbindung neokonservativer Gruppen aus den Vereinigten Staaten mit chilenischen ultrarechten Kreisen, die in der Lage sind, die gewalttätige Aktion einer extremistischen Gruppe im Militär einzuleiten.
Seit einiger Zeit gibt es Situationen, die die Existenz kleiner nationaler Gruppen zeigen, die Bomben legen und Gewalt gegen Menschen und Eigentum anwenden. Es ist wahrscheinlich, dass der chilenische Präsident die Fäden der Washingtoner Intervention kennt und unter Druck dieser schändlichen Kreise steht. Dies würde seine Inkonsistenz, seine gebrochenen Versprechungen erklären, die wenigen Worte, die er äußert, um seine Gedanken und Absichten als Präsident bekanntzugeben, kurz, Piñeras Verwirrung und Unentschlossenheit, den Stier bei den Hörnern zu packen und den Starrsinn eines Flügels der Rechten, der Partei UDI (Unión Democrática Independiente = Unabhängige Demokratische Union, Partei aus der Zeit der Militärdiktatur).
Überraschende Lektionen
Die chilenische Regierung entschied, die Gipfelkonferenzen APEC und COP, die im November und Dezember in Santiago de Chile stattfinden sollten, abzusagen. (30.10.)
Finale Krise der „semi-souveränen Demokratie“
Misswirtschaft bedeutet Unordnung, Verwirrung und Disziplinlosigkeit. Chile erlebt jetzt endgültig, dass die „halbsouveräne Demokratie“ nichts taugt, die in Chile beim Übergang von der Diktatur zur Demokratie unter der Leitung von Patricio Aylwin installiert wurde. Sie sollte ursprünglich das Wirtschaftssystem, das unter der Diktatur errichtet wurde, erhalten. Es führte aber zum immer weiter ansteigenden Unbehagen in der Bevölkerung, denn es blieb wegen der Aufrechterhaltung einer halbsouveränen Demokratie bis heute unangetastet. Es ist deshalb höchste Zeit, die nationale Souveränität vollends wiederherzustellen, um sie in allen Bereichen zum Wohle des Landes auszuüben.
Luz María De Stefano Zuloaga de Lenkait